Ich sitze endlich, endlich im Café von Jella und ihrer Ehefrau Ada und fühle mich wie der freiste Mensch dieser Welt. Auf dem Weg hierher habe ich im Zug die letzte Strecke hauptsächlich aus dem Fenster geschaut, die Sonne scheint, es ist wirklich ein herrlicher Januartag, und die Berge kamen immer näher und ich habe plötzlich so ein großes Gefühl der Losgelöstheit und Sorglosigkeit gespürt, als würde ich in einen langen, langen Urlaub fahren. Mir ging es wirklich so gut, wie schon lange nicht mehr und war so überrascht zu festzustellen, wie einfach es sein kann, sich genau so zu fühlen und habe mich gefragt, wie es sein kann, dass ich Jahre meines Lebens nie so etwas in der Art erfahren habe. Abgesehen davon, wenn wir mit anderen Menschen unterwegs waren, die uns in seltenen Augenblicken einen kleinen Einblick in ihr Leben gewehrt haben. Aber noch nie habe ich mich ganz alleine so frei und fremd gefühlt. Auf gute Art fremd. Nicht, wie eine Fremde in meinem eigenen Körper, sondern wie ein Vogel der die Möglichkeit hat, sich in völlig neuen Lüften zu bewegen, weil er Dank seiner Flügel an keinem Fleck der Welt gebunden ist. Und es ist auch nicht schlimm, dass ich mich selbst trotzdem überall hin mit nehme und meine Sorgen sorglos dabei sein können. Ich kann erfahren, dass ich auch trotz vieler Tragödien mit ihnen zusammen frei sein kann!
Das ist eines der schönsten Gefühle, die ich seit … ja, ich würde wirklich sagen, Jahren hatte. Es hat mich für einen Moment so glücklich gemacht, dass ich lächelnd Tränen im Zug wegblinzeln musste. Und ich bin mir sicher, dass ich das dieses Jahr, ganz ohne Vorsatz, regelmäßig machen werde.
Mir fehlt übrigens wieder vorne und hinten das Geld, weil ich mich mit den Weihnachtsgeschenken absolut übernommen habe und vor zwei Tagen die letzten hundert Euro, die ich jetzt für den Januar noch habe, abgehoben hatte. Ich habe keine Ahnung, wie man mit hundert Euro in 27 Tagen auskommt, aber auch das werde ich irgendwie schaffen, das haben wir schon oft geschafft – außerdem haben wir sowieso viele liebe Menschen in unserem Leben, die wir aus letztem Jahr mitgenommen haben. Und mittlerweile haben wir nicht mehr so große Ängste, irgendwas nicht hinzubekommen.
So viel erst einmal zu einem unserer tollen Neujahrserfahrungen, und das schon in der ersten Woche!
Aber jetzt erst einmal kurz zurück in die letzte Woche von 2023.
Es hat sich viel aufgestaut zwischen Svenja, Finja und mir/uns, was ich nicht richtig greifen konnte. Gefühle zu beschreiben ist aber nie einfach. Man fühlt sie einfach. Ich habe allerdings bemerkt, dass ich mich in ein altes Muster zurück bewegen wollte. Faszinierend, wie schwer es sein kann, Gewohnheiten zu durchbrechen. Svenja habe ich/wir (Wenn ich weiterhin in der Ich-Form schreibe, meine ich meistens auch andere von uns mit inbegriffen) in den letzten Wochen sehr häufig gesehen. Da sie ja nicht weit entfernt von uns wohnt, ist sie spontaner mal abends noch auf einen Tee oder Kaffee vorbeigekommen und wir hatten immer sehr gute Gespräche. Am 27. Dezember war ich dann bei ihr Zuhause. Die Stadt hat ein wenig Nervosität in mir ausgelöst, weil dort die Geschlossene ist, in der wir viele traumatische Erfahrungen gemacht haben, aber da sie mitten in der Altstadt wohnt und wir gar nicht in der Nähe der Geschlossenen waren, war diese Nervosität sehr schnell wieder von mir abgefallen.
Wir wollten eigentlich hauptsächlich über das Podcast Thema sprechen, ein bisschen Brainstorming machen. Das haben wir dann abends irgendwann gemacht, nachdem wir zu Mittag gegessen haben und lange mit Jimmy spazieren waren (ihn hatte ich dabei). Beim Spaziergang hat sie dann plötzlich ganz direkte Fragen an mich gestellt. Wonach ich (in Bezug aufs Daten), denn genau suche und ich glaube sie hat mich auch noch einmal zu Finja befragt oder ich bin selbst darauf gekommen, ich weiß es ehrlich gesagt nicht mehr so genau. Aber: Ich habe ihr von meinen Gefühlen zu Finja erzählt und wie ich zu ihr stehe, was ich zu alledem denke. Ich sagte ihr, dass ich weiß, dass sich bei mir nächstes Jahr beruflich sehr viel verändern wird und ich oft große Ängste vor Veränderungen habe. Auch davon, dass ich glaube endlich mein Muster in Beziehungen verstanden zu haben und dass ich es nie länger als ein halbes Jahr mit einer Person ausgehalten habe. Meistens aus unterschiedlichen Gründen, aber die schlussendliche Entscheidung jemanden von mir zu stoßen, war meistens dieselbe. Da ich ja eine Ahnung habe, woran das liegt bin ich motiviert dahin zu schauen, anstatt wegzulaufen, diese Ängste anzugehen (was Bindung und Vertrauen angeht). Ich habe ihr also gesagt, dass ich mir eigentlich geschworen habe, als ich das Daten angefangen habe, selbst, wenn ich mich total verlieben sollte, Nein zu einer festen Beziehung zu sagen. Weil ich Menschen nicht mehr so vor den Kopf stoßen möchte und weil ich mich egoistisch fühle: Wie eine Katze, die eine Weile gerne mit einer Maus spielt, nur für ihr Vergnügen, um sie dann verletzt wieder von Dannen ziehen zu lassen. So ein Mensch möchte ich nicht mehr sein. Nur zugunsten meiner Sehnsucht, mich durch andere Menschen lebendig zu fühlen und sie dann, bevor sie mir zu nah kommen, wieder von mir zu stoßen. Im Bezug darauf habe ich ihr dann gesagt, wie ich für Finja fühle und ich Angst habe, dasselbe mit ihr zu tun, wie mit meinen vergangenen Partner:innen. Vielleicht auch, dass es gerade deshalb so leicht und angenehm ist, dass Finja unserer Beziehung keine Bezeichnung gibt. Dass sie nicht erwartet, dass wir eine feste Beziehung eingehen sondern sie frei danach lebt, die Momente zu genießen, die wir gemeinsam erleben dürfen. So war das ja auch in der Beziehung mit Soula und diese hat schließlich zwei Jahre gehalten, ganz ohne Dramen, ohne Enttäuschungen und Verletzungen – eine der schönsten Liebesbeziehungen die wir je hatten, weil sie völlig ohne Erwartungen und voll von Vertrauen war. Ich bin ein wenig vorsichtig, weil ich nicht etwas in der Beziehung zu Finja suchen und finden will, das ich meine mit Soula verloren zu haben (sie sind ohnehin in allen anderen Punkten grundverschieden), aber ich denke, allein dass ich auch das im Hinterkopf habe, gibt mir die Sicherheit, dass ich nicht unreflektiert in diese Sache hineingehe.
Kurz bevor ich wieder gehen musste, hat mich Svenja dann geküsst und ich war wirklich völlig überrumpelt. Ich habe kein bisschen damit gerechnet. Es kam bei mir nicht eine Sekunde lang das Gefühl an, sie könnte mich heute, geschweige denn jetzt gleich, küssen wollen. Obwohl es sich kein bisschen gut angefühlt hat, konnte ich sie nicht abweisen. Aber ich habe mich so furchtbar gefühlt dabei. Es hat sich so falsch angefühlt und allem voran habe ich besonders die ganze Zeit an Finja denken müssen.
In der selben Nacht, weil ich ja mit dem letzten Zug noch nach Hause gefahren bin, konnte ich einfach nicht einschlafen. Mir ging es wirklich schlecht, ich wusste einfach nicht, was genau in mir aufgewühlt war, aber ich glaube, dass ich sogar leicht getriggert war (oder besser gesagt, jemand in mir drinnen). Ich habe versucht hinzuspüren oder zu hören, aber habe nur gehört: „Wieso hast du das zugelassen, wieso lässt du das zu?“… ich konnte aber nicht genau herausfinden, was genau gemeint war. Ob sie den Kuss von Svenja meinte, oder ob sie in alten Erinnerungen festhing.
Direkt am nächsten Tag hat Svenja mir eine sehr lange E-Mail geschrieben, die wirklich sehr tief ging und von der ich mich sehr in die Enge getrieben gefühlt habe, weil sie ganz direkt von mir gefordert hat, eine Entscheidung zu treffen. Ein Satz von ihr lautete im Originalen: „(…) aber um Liebe möchte ich nicht mehr „betteln“ müssen. Entweder du erkennst selbst den Wert in der Verbindung oder eben nicht.“
Das Tragische an der Sache war, dass ich in der Mail gemerkt habe, dass Svenja völlig fälschlich das Gefühl hatte wahrzunehmen, ich würde genau dasselbe für sie empfinden wie sie für mich, obwohl das keiner von uns jemals in ihrer Gegenwart erwähnt hat und wir ihr auch niemals Andeutungen darauf gemacht haben. Unsererseits war in keiner Sekunde irgendeine Anziehung da, wir haben in der Beziehung zu ihr nur den Wert des Austauschs und der Inspiration gesehen.
Wir schrieben ihr auf diese lange und sehr ehrliche Mail zurück, dass wir gerne näher darauf eingehen würden, aber das erst im neuen Jahr könnten, weil wir vorher keine Zeit dafür hätten. Zwei Tage später, ich glaube dreißigsten Dezember, habe ich ihr per Wahtsapp noch geschrieben, dass ich ihr das nicht antun möchte, dass sie so lange auf eine Antwort wartet und schrieb ihr das:
„Ich wollte dir schreiben, um dich nicht auf die Folter zu spannen, dass ich deine Mail gelesen habe. Ich will darauf eingehen und brauche dafür, wie gesagt, Ruhe und Zeit. Aber ich weiß, wie einen eine Antwort auf so eine wichtige Nachricht foltern kann und deshalb will ich dir vorab sagen, dass ich nicht glaube, dass ich dir den Wünsch oder die Hoffnung erfüllen kann. Ich bin mir sehr sicher, dass ich mich nicht zu einer Beziehung mit dir bereiterklären kann und nicht an dem Punkt stehe, wo ich ganz bewusst Ja sagen kann. Ich will nicht mit deinen Gefühlen spielen. Du bist ein wunderbarer Mensch und ich genieße den Gedankenaustausch und die Inspiration mit dir, aber ich möchte nicht, dass du (noch mehr) verletzt wird und du die Möglichkeit hast zu sagen: Okay, bis hierhin und nicht weiter. (…)
Als ich diese Nachricht abgeschickt habe, habe ich mich immer noch sehr bedrückt gefühlt und dachte mir: Wie soll denn ein Kontakt mit ihr überhaupt noch möglich sein und funktionieren?
Am nächsten Tag in der Früh war schon eine Nachricht von ihr da, dass sie dann gerne die Hand, die ich ihr reiche, annehmen und sagen möchte: „Okay, bis hierhin und nicht weiter.“
Das war am einunddreißigsten Dezember und plötzlich ist richtig viel Last von mir gefallen. Vermutlich hätte ich direkt sagen können und sollen, dass ICH keinen weiteren Kontakt möchte, aber mir war bis zu dem Moment ihrer Antwort gar nicht bewusst, dass es das war, was mich belastet hat.
Finja habe ich von dem Kuss mit Svenja erzählt, obwohl ich riesengroße Angst hatte. Zum Einen, dass sie sagt, es würde sie gar nicht stören, es sei völlig in Ordnung, wenn ich noch andere date – und zum Anderen, dass dieses Ereignis unserer gemeinsamen Zeit die Leichtigkeit und Sorglosigkeit nimmt.
Es war weder das eine noch das Andere. Sie war ein wenig verärgert darüber, dass ich es mir so aus der Nase ziehen lassen habe, ich habe ihr nicht in die Augen geschaut und meinte nur mit heißen Ohren, dass ich große Angst hatte, wie sie reagieren würde und ich einfach nicht wusste, wie ich ihr das sagen sollte. (Ich habe Finja ja direkt einen Tag danach schon besucht und es ihr auch direkt dort erzählt am Abend). Aber da ich ihr auf dem Heimweg von Svenja schon eine Sprachnachricht geschickt habe, dass ich ein wenig aufgewühlt bin und es ein krasser Tag war, meinte sie, hatte sie schon im Gefühl, dass irgendwie sowas passiert war. Ich fragte sie dann, wie sie sich fühlt und sie meinte: „Wie würdest du dich fühlen?“ Und ich sagte: „Ich glaube, wenn ich ehrlich bin, ein wenig scheiße. Und verunsichert.“
Dann habe ich sie angesehen, sie hat mich angelächelt und geküsst und seitdem war es noch zwei Mal Thema, aber nicht schwer, sondern nur ungeklärte Fragen noch etwas genauer beantwortet. Es hat sich in unserer gemeinsamen Zeit, wie wir sie empfinden und erleben, nichts verändert.
Also war das schon einmal etwas, was mir die Augen geöffnet hat: Ich kann Entscheidungen treffen, ich kann nein sagen, ich darf nein sagen und es wurde nicht bestraft. Ich kann auch Ja sagen: Ja zu Finja und zu der Frage, will ich den Weg lieber mit ihr gehen? Wir haben im letzten Jahr etwas losgelassen, und uns für das neue Jahr bewusst für etwas entschieden. Das hat sich richtig angefühlt, als wäre alles genau im richtigen Moment passiert.
Dann der Job. Ich wusste einfach nicht, wohin mit mir. Schon Anfang Dezember habe ich angefangen nach neuen Jobs Ausschau zu halten und der Markt ist natürlich gerade ein Geschenk. Eigentlich kann man im Moment gar nicht nichts finden. Aber ich dachte: Was kann ich überhaupt als gelernte Bürokauffrau anbieten, wenn ich seit fünf Jahren im Marketing bzw. in der Öffentlichkeitsarbeit arbeite und nie wieder nach der Ausbildung Excel oder komplizierte Word-Funktionen bedient habe, ich das Chaos in Person bin und Organisation nicht im Geringsten meine Stärke ist? Mir ist klar geworden, dass ich als Quereinsteiger in meinem eigentlich ausgelernten Beruf anfangen müsste und war noch verärgerter darüber, dass das scheinbar neue Hobby meiner Chefin seit der Corona-Pandemie die Archivarbeit geworden ist und ich mich seit zwei Jahren fühle, als könnte ich nichts. Ich dachte, ich könnte mich natürlich auch in einem Marketingbetrieb bewerben… und habe angefangen dort zu suchen. Meine Priorität war ohnehin eher, dass ich mehr Geld verdiene, bzw. mindestens auf dreißig Stunden, am liebsten auf zweiundreißig oder dreiunddreißig hochgehen könnte, weil ich von den 1.300 Euro im Monat einfach nicht leben kann, wenn (mittlerweile) 65 % meines Gehalts auf die Miete (ohne Nebenkosten etc.) draufgehen und ich dann jeden Monat überlegen muss: „Verzichte ich diesen Monat lieber auf Kultur, Freunde und Freiheit oder auf Lebensmittel?“ Natürlich mit tragischem Humor, aber wer in dieser Situation nicht mehr lacht, der hat den Ernst der Lage nicht verstanden. 😉
25 Stunden zu arbeiten, ist für mich keine Option mehr. Egal wie ich es drehe oder wende: Ich will mehr. Ohne finanzielle Freiheit, so traurig das auch klingt, kann man leider nicht wirklich frei sein. Es braucht sowohl innere als auch äußere Freiheit. Innerlich frei ist eine Bewusstseins-Weisheit und Kunst für sich, das ist, denke ich, ein lebenslanger Prozess. Aber auch äußerlich frei zu sein, das schaffe ich nur, wenn ich mein Leben in die Hand nehme und etwas tue. Von nichts kommt nichts.
Was mir sehr schweren Herzens war: Ich liebe eigentlich den Ort, wo ich arbeite und ihre Menschen und da ich mich im November/Dezember schon angefangen habe mich von dem Ort und den Leuten dort zu verabschieden (ich habe auch ein paar Wehmuts- und Dankbarkeitstränen vergossen; keine rein schmerzlichen Tränen, irgendwie angenehme, schöne Tränen) – war für mich auch das ein guter Abschluss für 2022.
Besonders als ich mich von Billy verabschiedet habe und mir tief im Herzen dachte: Mit ihr hätte ich mir wirklich eine angenehme, langfristige Zusammenarbeit vorstellen können und ich mich an meinem letzten Arbeitstag von ihr verabschiedet habe, habe ich ganz viele Tränen vergossen. Aber es war gut. Ich habe mich irgendwie befreit und losgelöst gefühlt. Es hat sich sauber gefühlt, Altes im alten Jahr lassen und das neue Jahr mit völlig neuen Chancen beginnen zu können.
Plötzlich schrieb mir Billy vor zwei Tagen, sie hätte eine Überraschung für mich. Ich dachte erst, ob ich vielleicht einen Platz in ihrem Büro bekommen würde. Das wäre nicht abwegig gewesen und das Einzige, was mir in dem Moment eingefallen ist, denn, da sie ja nun nicht mehr im Direktorat arbeitet und ihr Arbeitsplatz aufgelöst wird, gibt es dort nur noch einen Schreibtisch, der aber von *Hanni besetzt wird (auch eine Sekretärin der Vorstände mit der wir auch gut auskommen), aber wir dann eben keinen Platz mehr gehabt hätten. Ich meinte aus Spaß aber: „Kriege ich jedes Mal ein Stück Schokolade, wenn ich dich besuchen komme?“ Und sie schrieb: „Du wirst mich nicht besuchen kommen.“
Mir ist für einen Moment das Herz in die Hose gerutscht und ich habe direkt die Tränen im Hals gespürt, dachte mir: Oh Gott bitte sag nicht, dass sie jetzt auch noch gekündigt hat und geht! Mir war wirklich kurz schwindelig, auch, wenn ich jetzt schon letztes Jahr Abschied von der Zusammenarbeit mit ihr genommen habe. Sie hat ja nämlich die Stelle als Veranstaltungsmanagerin bekommen, einem völlig neuen Bereich in unserem Unternehmen.
Nur eine Minute später schrieb sie: „Du wirst in Zukunft bei mir im Veranstaltungsmanagement arbeiten.“
Ich musste mich am Waschbecken festhalten. Da mir ja erst die Angst in die Glieder gefahren ist, dass sie jetzt auch noch ganz geht, und dann diese plötzliche Fassungslosigkeit (Freude), ist mir echt für einen Moment schwindelig geworden. Mit dieser Option hatte ich absolut nicht mehr gerechnet. Die Geschäftsführer hatten klar gesagt, es braucht keine weiteren Mitarbeiter dort. Aber Billy hat sich bei einem zufälligen Gespräch, in dem mein Name gefallen sei, mit Herzblut für mich eingesetzt und hat dafür gesorgt, dass ich ab dem 23.01. offiziell die fünf Stunden, die ich sonst im Direktorat war, bei ihr arbeiten darf.
Das hat jetzt natürlich meine Entscheidung ein bisschen auf den Kopf gestellt. Fest steht: Den Job habe ich erst einmal nur, solange mein Vertrag im August ausläuft (auch wenn Billy Andeutungen macht, dass es langfristiger werden könnte, wenn wir das zusammen gut wuppen), und ich weiterhin in den 25 Stunden und dem blöden Öffentlichkeitsreferat feststecke. Und da will ich auf jeden Fall weg. Eigentlich können mir keine zehn Pferde mehr dort halten. Nicht freiwillig.
Andererseits wäre damit eines meiner größten Wünsche (bevor ich mich im November schon davon verabschiedet habe), in Erfüllung gegangen: Weiter mit Billy zu arbeiten und dann auch noch in einem Bereich, der mir Spaß machen könnte PLUS in dem Ort, auf den und deren (hauptsächlich hilfeberechtigten) Leute ich sehr stolz bin.
Jetzt ist also mein Plan ein bisschen anders: Ich werde nicht meine ganze Stelle in meinem jetzigen UN kündigen, wenn ich einen neuen Job finden sollte, sondern überlege, ob es irgendwie möglich ist, die zwanzig Stunden im Öffentlichkeitsreferat und im Spendenwesen zu kündigen, und außerhalb einen Job anzunehmen. Dann wäre zwar das Veranstaltungsmanagement – ja, was wäre das? Fünf Stunden in der Woche? Kann man das als Nebenjob gelten lassen? Und wo anders würde ich dann gerne 25 Stunden arbeiten. So der Plan, der völlig unrecherchierte, rohe Plan. Da sind natürlich noch viele Fragen offen, wie: Ist das überhaupt möglich? Kann ich überhaupt den Vertrag, den ich aktuell in meinem UN habe, auf die Art und Weise beenden bzw. so umgestalten? Oder wäre es nur so möglich, dass ich das trotzdem die neun Monate noch in den zwei anderen Stellen aushalten muss? Das sind Dinge, mit denen will ich mich noch mit Billy zusammen beraten. Sie ist, was solche Sachen angeht, immer sehr klar und direkt, weiß meistens auch mehr als ich.
Ich glaube, da werde ich erst Ende Januar Genaueres wissen und neue Ziele definieren können.
Was die Therapie angeht, bin ich noch zu keinem 100% Entschluss gekommen.
Am Donnerstag nächste Woche sehe ich Frau Blume und möchte mit ihr reden, vielleicht auch ihren Rat einholen, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob sie mir einen geben wird, weil sie ja immer möchte, dass ich selbst entscheide und mich nicht beeinflussen will. Da mir bewusst ist, dass wenn ich mehr arbeite, nicht mehr zur Therapie kommen kann. Freitags arbeitet sie nämlich nicht. Mit zweiunddreißig Sunden könnte ich noch Freitags frei nehmen, aber ich könnte an keinem anderen Tag frei nehmen und Stunden am Freitag arbeiten, weil unser Unternehmen Freitags um 12 schließt. Das heißt, ich habe keine Stundenausgleich-Möglichkeiten. Aktuell haben wir glaube ich sowieso nur noch vier Stunden bei Frau Blume. Ich habe mich gefragt, ob es vielleicht gar nicht so schlimm ist, wenn wir zwei Jahre Pause machen und nur dieses Angebot in Anspruch nehmen, einmal im Monat zu einer Sprechstunde zu kommen. Am Tag danach habe ich mein Erstgespräch bei der Ausstiegsbegleiterin. Ich habe viele Fragen an sie, und bin gespannt, ob sie sich für mich klären werden. Ich meine, dass das Traumahilfezentrum Freitags auf hat und eine Überlegung von mir war, dass ich die nächsten zwei Jahre, in denen die Therapiepause dann besteht und in denen ich mehr arbeiten möchte, um Geld zu verdienen, freitags zur Ausstiegsbegleitung gehe und dann eben 1x im Monat zu Frau Blume zu dieser Sprechstunde.
Aktuell weiß ich nämlich nicht, wie mir die Therapie weiterhelfen kann. Wir haben viel verstanden, besonders uns selbst, aber wir merken, dass uns das Verstehen nicht weiterhilft und meistens haben wir die größten existenziellen Krisen und Ängste, wenn wir auf unser Konto schauen. Deshalb wollen wir einfach mal schauen wie es uns gehen würde, wenn wir finanziell einfach mal stabil wären. Aber dafür müssen wir mehr arbeiten und das heißt dann eben leider, keine Zeit mehr für Therapie. Zur Erklärung, weil viele bestimmt denken werden, das sei eine Ausrede: Wir hatten bisher Donnerstags immer nachmittags frei, damit wir um 15 Uhr den Zug erwischen können, um um 17:15 Uhr bei Frau Blume zu sein. Freitags haben wir immer frei, aber an dem Tag arbeitet sie eben nicht.
Ist leider wirklich nicht einfach und ich wünschte, es gäbe mehr so gute Therapeuten wie Frau Blume, wenigstens eine einzige in unserer Nähe. Aber sie war die nächste in der Umgebung…
Die Therapie ganz beenden wollen wir aber nicht, weil ich uns gut genug kenne, dass es Zeiten gibt, in denen wir sie ganz dringend brauchen werden. Deshalb macht mich dieser Plan auch ein wenig nervös. Andererseits, wenn ich nie irgendwas riskiere und mal etwas anderes ausprobiere, dann werde ich nie Veränderungen bemerken. Die letzten 5 Jahre bin ich jetzt so verfahren und es hat sich nichts verrändert, bis auf mein Wissen und Verstehen. Das reicht am Ende auch nicht. Und ich bin mittlerweile weit genug um zu verstehen, dass nicht einmal Jesus selbst mich aus einem Sumpf Scheiße ziehen kann, diese Chance habe ausschließlich ich selbst, aber das geht nicht, wenn ich jahrelang wöchentlich zur Therapie gehe und mich in der bequemen Illusion bewege, dass dadurch alles besser wird. Das ist einfach falsch und langsam erkenne ich einen Zusammenhang zu mir, die seit Jahren hoffnungsvoll in Therapie geht und den Menschen, die ich nicht verstehen kann, dass sie zu Gott beten, anstatt ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Vermutlich habe ich Mona deshalb oft so verurteilt, weil sie mich gespiegelt hat. Sie betet und bittet Jesus um Hilfe, wenn sie nicht mehr weiter weiß und lehnt sich zurück und gibt ihren Kummer ins Vertrauen, dass irgendwas „göttliches“ oder Übermächtiges ihr Leben richtet… aber ich/wir waren in keiner Weise anders. Tief in uns drinnen habe wir wohl seit unserem 13. Lebensjahr, also vor dreizehn Jahren, gehofft, dass uns Therapien von unserem Leid befreien. In Wahrheit haben sie uns nur geholfen, unser Leid, den Kummer unser Verhalten und uns selbst zu verstehen. Aber nicht, wirklich zu leben. Damit möchte ich ein für alle Mal Schluss machen.
Ich bin 26 Jahre alt geworden und fühle mich endlich erwachsen. Nicht, dass jetzt dieser eine Geburtstag alles verändert hätte, aber irgendwie bin ich auf den Geschmack der Selbstbestimmtheit und Unabhängigkeit, der Lebensfreude und der (positiven) Abenteuer gekommen, seit wir aus der Betreuung und dem Helfersystem ausgebrochen sind. Und ich bin nach wie vor fest davon überzeugt, dass wir nur so den Schritt ins Erwachsenwerden lernen konnten. Es ist traurig und ich sage es nicht gerne, aber es ist leider eine Tatsache: Das Helfersystem ist nicht für eine langfristige Zeit gut. Es gibt einen Punkt, da ist es überschritten und man braucht eine gewaltige Portion Kraft und Mut und Antrieb, um sich in der Gesellschaft als vollwertiges Mitglied wieder aufzuarbeiten. Ich sage das nicht aus Bosheit oder Wut, sondern mit trauriger Beobachtung und jahrelanger Erfahrungen durch uns selbst und Mitmenschen. Ich bin mir sicher, jede:r, die als Hilfeberechtigte:r den Absprung geschafft hat, würde mir zustimmen und sogar Helfer selbst haben mir diese Beobachtung bestätigt.
Und das meine ich mit: Raus aus der Opferrolle. Es heißt nicht: STELL DICH NICHT SO AN! Sondern viel eher, soll es alle Betroffene wachrütteln, ihr Leben zu lebem mit ihren Sorgen und Ängsten. Sie werden immer da sein, es wird nie ein Wundermittel geben, das das alles wegzaubert – darauf zu warten ist vergeudete Lebenszeit. Nehmt Hifle an, die ihr braucht, hört auf das, was euch guttut, aber lasst euch niemals euer Leben von einem Helfersystem nehmen, lasst niemals über euch bestimmten – weder von Tätergruppen, noch von Helfern. Ich wünsche mir von Herzen so sehr für alle Mit-Betroffenen und auch alle in uns drinnen, dass sie erfahren dürfen, was leben bedeutet und dass sie selbst in ihren Mut und ihren Antrieb kommen und erkennen, wie viel Schönes und Kraftvolles in ihnen steckt. Und ganz besonders, dass sie ihre Grenzen erkennen und für sie einstehen! Denn nur weil Helfer da sind, um zu unterstützen, heißt es noch lange nicht, dass sie Gewalt in Form von Grenzüberschreitung und dem Entziehen Eurer Selbstbestimmung anwenden dürfen. Ich weiß, es ist super schwer zu erkennen, wo dort klassische Helfergewalt anfängt und Einrichtungen haben ihre Regeln und Konsequenzen. Aber: Ihr seid selbstbestimmte Menschen! Ihr habt Rechte, Würde und Grenzen, die zu 100%, in jeder Lebenssituation eingehalten werden müssen.
Wenn das nicht der Fall ist: Lauft. (Um es mal dramatisch auszudrücken :D), lauft um euer Leben, bevor ihr in diesem Helfersystem gefangen bleibt. Ihr seid wundervolle, wertvolle und starke Menschen. Holt euch Hilfe von heilsamen, professionellen Menschen, die euch dabei unterstützen eure Autonomie wiederzuerlangen, die man euch so früh genommen hat! Die liebevoll und auf Augenhöhe mit euch Arbeiten und euch nicht als Opfer, sondern als Überlebende sehen. Das wünsche ich mir von Herzen.
Blabla Ende 😅 das ist jedenfalls, wo ich mich befinde. Ich habe mit dem grenzüberschreitenden Helfersystem vor über einem Jahr abgeschlossen und festgestellt, wie richtiges Heilen (Dank Frau Blume) funktioniert. Es hat ein Jahr gedauert, um es zu begreifen und zu verarbeiten, aber jetzt fühle ich mich wirklich in der Kraft, dieses Wissen und Verstehen in die Tat umzusetzen. Ich traue mich jetzt, nach so vielen Jahren, endlich wirklich auszusteigen. Ich traue mich. Und es fühlt sich richtit gut an. Weil ich es nicht als Opfer tue, sondern als Kämpfer.